Tiere suchen ein neues Zuhaus... oder?
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Tiere suchen ein neues Zuhause…     …oder???



Manchmal haben wir große Schwierigkeiten bei der Vermittlung selbst der supernettesten Katze. Wenn bei uns Besucher durchs Haus geführt werden, sind alle Katzen erst mal grundsätzlich verschwunden. Natürlich kennt man mit der Zeit die Ecken und Nischen, in denen sie stecken, z. B. in der Waschküche, im Badezimmer unterm Klo oder auf der Sauna. Auf ihr Verhalten hat man aber leider keinen Einfluss. Wenn die Gefahr einer Vermittlung besteht, zeigen sich unsere Katzen von ihrer allerschlechtesten Seite. Sie werden zu Monstern. Der einen tränt plötzlich das Auge ganz furchtbar – was aber sofort aufhört, wenn der Besuch das Haus verlässt, die andere putzt sich dem potentiellen Dosenöffner zugewandt hingebungsvoll den Hintern, die dritte pupst, andere versuchen es mit Ohrenkratzen nach Milbeninvasion, manche sabbern sich eklig voll, gerne wird sich auch tot gestellt. Eher selten stellt eine Katze mal fest: Hey, der Dosenöffner wär doch was für mich! Und geht glücklich mit ihm nach Hause. Die anderen werden nach ihrer Vermittlung zwar auch glücklich, falls die neuen Besitzer hartnäckig genug waren, den ersten Eindruck zu ignorieren, aber das Weg-Gehen ist doch immer schwierig. Natürlich nicht nur für die Katzen.

Der getigerte Kater mit den weißen Füßen und dem weißen Schlabberlatz lief planlos auf der Straße rum. Er war ein verwechselbarer grauer Straßenkater wie Millionen andere auch. Keiner in dem kleinen Ort kannte ihn. Er stammte eindeutig nicht von da. Also kam er zu uns in die Katzenhilfe. Wir tauften ihn Chester. Ich habe mich sofort in ihn verliebt. Er hatte unten rechts keinen Eckzahn mehr und deshalb hing sein Mundwinkel ein bisschen cool locker schief runter. Chester war einer von den Katzen, zu denen ich eine ganz besondere Beziehung aufgebaut habe, was man ja bei Vermittlungskatzen besser vermeiden sollte. Aber bei Chester war das nicht möglich. Es war fast wie Telepathie. Ich sah ihn an, und ich kannte diese Katze. Er rannte hinter mir her wie ein Hund. Und wenn mir eine andere Katze zu nahe kam, hat er geknurrt. Dann musste ich mich hinsetzen und beide streicheln. Das hat er akzeptiert. Das lief etwa fünf Monate so.

Der Mann war Mitte vierzig und total nett. Seine Katze sei letztes Jahr gestorben und jetzt habe er mit der Trauer abgeschlossen und denke an eine Nachfolgekatze. Der Mann lebte einige Orte weiter etwas außerhalb ganzjährig in einer Ferienhaussiedlung. In einem Holzhaus, wunderschön. Wir sehen uns das neue Zuhause natürlich immer an. Mitten im Wald, aber trotzdem eine ordentliche Ansammlung von Häusern. Hier gab es noch andere Katzen, aber keine Überbevölkerung, mit der man um sein Revier hätte kämpfen müssen. Die letzte Katze des Mannes hatte immerhin 16 Jahre dort gelebt. Die Katze, die hierhin kommen würde, hatte das große Los gezogen. Es war ein Katzentraum-Zuhause!

Seine Wahl fiel auf Chester. Ich hatte es befürchtet. Nun sind die Katzen ja nun mal in der Katzenhilfe, um vermittelt zu werden.  Trotzdem: es war schrecklich. Chester hat sich völlig danebenbenommen, als er den Mann gesehen hat, hat im Flur rumrandaliert und die anderen verprügelt und geknurrt und gekratzt. Ich habe mich dann von ihm verabschiedet, und er wurde etwas ruhiger. Aber keine zehn Pferde hätten mich dazu gebracht, ihn in die Transportbox zu stecken! Ich bin in den Keller gegangen und habe mich eingeschlossen. Natürlich hörte ich, was da oben los war. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Chester „verstaut“ war. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich den ganzen restlichen Tag und die Nacht durchgeheult habe, oder?

Am nächsten Tag, einem Samstag, war alles schon viel besser. Die Sonne schien, die Hitzeperiode fing gerade an. Und ich dachte –etwas wehmütig, aber fast schon glücklich-, welch ein tolles neues Zuhause Chester gefunden hatte.

Am Montagmorgen um sechs Uhr rief der völlig verstörte neue Dosenöffner von Chester an und meldete uns, der Kater sei verschwunden. Dabei hatte er alles genau richtig gemacht, nämlich den Kater erst mal nicht raus gelassen. Aber da es so heiß war, konnte man bei geschlossenem Fenster einfach nicht schlafen. Chester hatte sich durch das gekippte Fenster gezwängt und außerdem ein höchst stabiles Dauer-Fliegengitter zur Strecke gebracht. Mir wurde schlecht. Mir wurde richtig schlecht. Ich hatte vor Augen, wie Chester sich teilweise gelähmt mit den Vorderbeinen durch den Wald zog, wie irgendwelche Mardertiere interessiert an ihm schnupperten, wie er nichts zu fressen fand, weil er zu langsam war. Ich fuhr nach Hause und laminierte Schilder, die ich in großen Mengen in den Nachbarorten  und im Umkreis aufhängte. Den Rest der Woche verbrachte ich quasi im Wald und auf den Feldwegen. Ich klingelte oder klopfte an jedem Haus, informierte sämtliche Wochenendhausbesitzer, die vor Ort waren, bin auf die Grundstücke derer eingebrochen, die nicht da waren, und habe deren Häuser äußerlich auf Verstecke abgesucht, ich habe jeden  Grashalm einzeln umgedreht und bestimmt mehrmals kurz vor dem Hitzschlag gestanden. Aber Chester habe ich nicht gefunden. Nach einer Woche, am Samstag, konnte ich nicht mehr und musste die Suche abbrechen.

Sonntag früh klingelte das Telefon, es war mir egal. Ich heulte mal wieder. Aber auf dem Band war meine Chefin Johanna von der Katzenhilfe: Dagmar, ruf bitte zurück, es geht um Chester! Ich dachte… ich dachte gar nichts mehr aus vorbei gefunden tot ende kippfenster. Ich hab die Nummer getippt und hörte Johanna fröhlich sagen: „Der Chester ist wieder da! Er ist zurückgekommen! Gestern Nacht um eins stand er vor unserem Schlafzimmerfenster und verlangte energisch nach Einlass!“

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich das begriffen hatte. Katzen, die freiwillig ins Heim zurückkommen? So was gibt’s doch gar nicht!

Aber Chester war tatsächlich da. Und hatte nicht einen einzigen Kratzer. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, er hatte zugenommen! Die Maus-Verpflegung unterwegs war offenbar kalorienreich und nahrhaft. Da suche ich bis zum Umfallen im Wald und dieser Schuft macht sich gemütlich auf den Heimweg! Er tat so, als sei überhaupt nie etwas gewesen! Also haben wir alle beschlossen, dass tatsächlich nie etwas gewesen ist, außer dass Chester leider nicht vermittelbar ist. Er darf für immer bei uns bleiben.

Wer will, kann ja eine Patenschaft für ihn übernehmen.


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